„Wir geben uns die Hand.“ Dieser Hinweis unseres Innenministers de Maizière auf deutsche Gebräuche ist zu Unrecht ridikülisiert worden. Unsere Rechtsvorstellungen und unsere Bräuche unterscheiden sich ganz fundamental von denen anderer Kulturen, und unsere Erwartung, dass Flüchtlinge sich auf unsere Ordnung einlassen, ist eine weit größere Zumutung, als wir uns das im Regelfall einzugestehen bereit sind.
Wenn Türken gegen die Menschenrechte demonstrieren, kämpfen sie für altehrwürdige Rechtsvorstellungen. Dass unser Konsens heute ein anderer ist, ist relativ neuen Ursprungs. Und auch heute noch herrschen bei uns Rechtsvorstellungen, die die unbedingte Gültigkeit von Menschenrechten negieren.
Zur Erläuterung dieser Behauptungen muss ich ein wenig weiter ausholen, selbst wenn ich darauf verzichte, die Zusammenhänge vollständiger darzulegen.
Vor dem in der Aufklärung entwickelten Konzept der Menschenrechte galt in Europa der Rechtsgrundsatz von Ehre und Rache. Wenn die Rechtsordnung durch Ehrverletzung gestört worden war, musste sie in ausgleichender Gerechtigkeit (!) durch Rache wiederhergestellt werden. Die Tötung eines Menschen war also durch die Rechtsordnung geboten, der Verzicht auf Rache ein Rechtsbruch.
Dass dies schon in den ältesten schriftlich überlieferten Rechtskatalogen so streng nicht mehr gilt, hängt mit der Vorstellung zusammen, dass Menschen nicht gleichwertig seien, die Verletzung der Ehre eines Rangniedrigeren also einen weit geringeren Ausgleich erforderte als die eines Gleichgestellten.* Die Tötung eines Sklaven war also ähnlich zu bewerten wie die eines Stücks Vieh und konnte ohne weiteres durch Geld abgegolten werden. Und mit der fortschreitenden Zivilisierung konnte auch bei der Tötung freier Bürger ein unblutigerer Ausgleich gefunden werden als die Tötung des Täters.
Eines muss dabei klar gestellt werden: Zur Ehre gehörte auch der Besitz. So erhielt der Olympiasieger im antiken Griechenland nicht nur eine Medaille, sondern zusätzlich hohe materielle Werte, die sicherstellten, dass er auch in dieser Hinsicht auf einer höheren Ehrenstufe stand.
Wenn man sich das klar macht, wird einem deutlich, wie viel von den alten auf Ehre aufbauenden Rechtsvorstellungen noch heute erhalten sind. Noch gibt es bei uns den Rechtstatbestand der alten Majestätsbeleidigung, auch wenn er zur Staatsoberhauptbeleidigung modernisiert worden ist und in Deutschland bald abgeschafft werden wird.
Auch Höneß und Beckenbauer können sich darauf verlassen, dass für sie das allgemeine Recht etwas abgemildert wird, weil sie doch so viel für den Fußball geleistet haben, und Helmut Kohl kam nicht in Beugehaft, damit er einsehen sollte, dass sein Ehrenwort nicht über der Rechtsordnung der Bundesrepublik steht. Denn das hätte ja die Ehre der wieder vereinigten Bundesrepublik Deutschland beschädigt.
Schließlich, genügend Reichtum verschafft so viel Ehre, dass ein Milliardär von normaler Steuerzahlung ausgenommen wird. Zunächst durch die Möglichkeit von Abschreibungen, wenn die nicht genügen, durch Gewinntransfer in Steueroasen.
Ausgelassen habe ich bei der bisherigen Betrachtung die Staatsraison. Die rechtfertigt nach geltenden Rechtsvorstellungen auch heute noch die Tötung von Menschen. Jedenfalls im Verteidigungskrieg. Damit sie auch für den Angriffskrieg gelten kann, ist der Begriff der Schutzverantwortung (responsibility to protect) geschaffen worden.
Dazu heißt es zu diesem Stichwort in der Wikipedia:
„Die Schutzverantwortung trifft zunächst den Einzelstaat und umfasst seine Pflicht, das Wohlergehen der ihm kraft seiner Personal- oder Gebietshoheit unterstellten Bürger zu gewährleisten. Bei der Wahrnehmung dieser Verantwortung wird er von der internationalen Staatengemeinschaft unterstützt, der eine subsidiäre Schutzverantwortung zukommt. Ist jedoch die politische Führung eines Staates nicht fähig oder willens, seine Bürger vor schweren Menschenrechtsverletzungen zu schützen, darf die internationale Staatengemeinschaft zum Schutz der bedrohten Bevölkerung eingreifen. Dazu stehen ihr nach Maßgabe der Charta der Vereinten Nationen zivile und militärische Mittel zur Verfügung, über deren Einsatz der Sicherheitsrat entscheidet.“ (Schutzverantwortung)
Die Staatsräson ist der Grund, weshalb Grundrechte nicht nur im Krieg, sondern auch zum Schutz der inneren Sicherheit außer Kraft gesetzt werden dürfen. Ausspähung der eigenen Bürger und der Regierungen befreundeter Staaten werden damit gerechtfertigt, aber auch Industriespionage zugunsten der für die nationale Wirtschaft systemwichtigen Konzerne.
Deshalb trifft es die Manager der in Deutschland beheimateten multinationalen Konzerne der Automobilbranche vermutlich unerwartet, dass die deutsche Bundesregierung – anders als bei Verhandlungen in der EU, wo es um Umweltschutz ging – bei dem Kartell zur Aushebelung der Abgasnormen bei Dieselfahrzeugen es plötzlich an Staatsräson mangeln lässt. Denn darauf, dass die deutsche Automobilbranche systemwichtig ist, hatte das gesamte Betrugsmanöver ja aufgebaut. Was bei der Bankenrettung funktioniert hatte, hätte – bei innerer Konsequenz – auch bei ihnen Platz greifen müssen. Und dass die Cum-und-Ex-Geschäfte, nachdem sie jahrelang mit Wissen der staatlichen Behörden gelaufen sind, neuerdings doch unterbunden werden sollen, widerspricht ganz den Erwartungen, die die Finanzbranche angesichts ihrer Bedeutung für das System hat.
So wie es eine Rechtsverpflichtung zur Blutrache gab, der man zu folgen hatte, auch wenn es dem innersten Wesen widersprach (vgl. Hamlet**), so gibt es auch heute noch ungeschriebene Regeln, die den meisten von uns nicht bewusst sind. Dass manche davon aufgeweicht werden und dass Sportshelden und Manager systemwichtiger Unternehmen und sogar Staatsoberhäupter nicht mehr selbstverständlich über dem Gesetz stehen, (vgl. internationaler Strafgerichtshof), macht uns diese Regeln erst bewusst, wenn wir feststellen, mit welcher Selbstverständlichkeit die Mächtigen unserer Zeit davon ausgehen.
* Auf der Vorstellung einer unterschiedlichen Ehre verschiedener Stände beruhte auch der Begriff der Satisfaktionsfähigkeit.
** „›Die Zeit ist aus dem Gelenke; wehe mir, daß ich geboren ward, sie wieder einzurichten.‹ In diesen Worten, dünkt mich, liegt der Schlüssel zu Hamlets ganzem Betragen, und mir ist deutlich, daß Shakespeare habe schildern wollen: eine große Tat auf eine Seele gelegt, die der Tat nicht gewachsen ist. “ (Goethe: Wilhelm Meisters Lehrjahre) – „Die Zeit ist aus dem Gelenke“ ist die Formulierung, die Shakespeares Übersetzer für die Störung der Rechtsordnung gebraucht. Hamlets Verpflichtung zur Rache gehört im Kontext des Stückes noch selbstverständlich dazu.
vgl. dazu auch den Beitrag Würde und Ehre und Arno Widmann: Ehre und Rache, FR 25.7.17
Literatur: Philipp Ruch: Ehre und Rache: Eine Gefühlsgeschichte des antiken Rechts, 2017