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Psychologische Aspekte paulinischer Theologie

11. Mai 2022

Gerd TheißenPsychologische Aspekte paulinischer Theologie, 1. Aufl. 1983 2. Aufl. 1993

„Nicht die Außen- und Innenwelt an sich, sondern ihre Deutungen bestimmen menschliches Erleben und Verhalten. Deutungen […] sind aktive kognitive Strukturierungsprozesse, in die kulturelle Tradition eingeht.“ (S.33)
Kap 1:
„Die Aufdeckung unbewußter Motive durch die paulinische Theologie. […] Glaube an den allwissenden Gott […] Der Mensch durchschaut nicht einmal sein eigenes Wesen.“ „Anerkennung einer eigenständigen inneren Realität“ […] ermöglicht die Vorstellung einer unbewußten Region im Menschen“. (S.66) [1. Kor. 4, 1-5: Vorstellung einer unbewussten Schuld, über die freilich nicht Menschen, sondern nur Gott am Jüngsten Gericht urteilen kann. [Vgl. Röm. 2,16]
„Das Gebet ist aus der Evolution des inneren Dialogs nicht wezudenken.“ (S.113)
Kap 2:
„Die Hülle des Mose und die unbewußten Aspekte des Gesetzes“ (2. Kor. 3, 4-4,6)
Die Hülle des Kopfes der Frau schützt sie vor eigener Begierde und vor den Angriffen durch die gefallenen Engel. (S.176)
In Joseph und Aseneth wird diese vom Engel freilich aufgefordert, den Schleier vom Kopf zu entfernen (JosAs, 15,1 – vgl. auch Joseph u. Asenat)). Gegenüber Gott entfällt der Schutz des Unbewussten.
Theißens Argumentation: Paulus ist gegen die „Auflösung der Geschlechtsrollensymbole“ (S.178), verkennt allerdings den Unterschied zwischen kulturellen Symbolen (kurze Haare/lange Haare) und natürlich gegebenen (Bart beim Mann, vgl. dazu Epiktet III 1, 25-34).
Dazu 1. Kor. 11 (Verhüllung des Kopfes der Frau im jüd. Gottesdienst) und 2. Kor. 3, 14f (Aufhebung der Verhüllung aller gegenüber Gott im christl. Gottesdienst).
Mit der Forderung nach der Unterdrückung sexueller Impulse der Frau hinterlässt Paulus ein schweres Erbe. Mit dem Fortfallen der Hülle im christl. Gottesdienst aber gibt er „gegenüber den Forderungen und Inhalten des Überichs“ mehr Freiheit. (S.180)

Kap 4: „Glossolalie – Sprache des Unbewußten?“ (S.269ff)
„Glossolalie ermöglicht ein gesteigertes […] positives Selbstbild“
Paulus: „Das Leiden soll in das Selbstbild […] aufgenommen werden. […] Wodurch wird die kognitive Umstrukturierung […] bewirkt?“ Durch Christus. „In seiner Gestalt sind die negativen Aspekte der Wirklichkeit mit der positiven Erfahrung der Erlösung verbunden.“ (S.339)
Vielleicht hat Paulus recht. Vielleicht ist Glossolalie mit dem „Sündenfall“ in Verbindung zu bringen „als Erinnerung an ein unsemantisches phonetisches Spiel des Urmenschen, das noch nicht durch die Anforderungen der kulturellen Evolution eingeengt“ und in Sprachen genutzt wurde. (S.340)

Kap5: „Weisheit für Vollkommene als höheres Bewußtsein“ (S.341ff) [1. Kor. 2, 6-16)

Textanalyse 1. Kor. 18-25: Kreuzespredigt als Torheit, 1. Kor. 2, 6-16 Kreuzespredigt als Weisheit
Man kann das Verhältnis der Kreuzespredigt zur Weisheit im Sinne von Stufen oder im Sinne einer Dialektik verstehen. Für Stufen spricht die Form, für Dialektik der Inhalt. In „dieser Spannung von Form und Inhalt“ liegt „der Schlüssel zum Verständnis des Textes“ (S.343)

Schlussbemerkungen:
Paulus sieht wie die Moderne das Unbewusste als „bedrohliches Konfliktgeschehen“ und als „heilende Kraft“. Paulus öffnet sich dem Unbewussten freilich nicht total. Sexuelle Impulse will er kontrolliert sehen. Vielleicht ist das die Voraussetzung für „von sexueller Kontrolle entlastete Beziehungen […] in der Gemeinde“. (S.392)
„Herz paulinischer Theologie: Christus ermöglicht neue Verhaltens- und Erlebensweisen“ (S.393)
Der Glaube, „Religion historisch und sachlich ohne psychologische Reflexion erhellen zu können“ ist illusionär, aber mit dieser Reflexion ist längst nicht alles über Religion gesagt. [Bei Theißen nur auf das Christentum bezogen]. (S.394)

Wer bin ich? (4)

11. März 2010

Zunächst möchte ich jetzt die Sicht Freuds einbringen: Das Ich als die Instanz, die sich aus dem Widerstreit zwischen den Forderungen der Triebe (dem Es) und den Erwartungen von außen (Überich) als steuernde herausbildet. Diese Vorstellung hat für mich mehr Erklärungswert als der Ego-Tunnel Metzingers.
Freud ist inzwischen weitgehend ins Allgemeinwissen eingegangen.
Dagegen ist das Bewusstsein dafür, dass ein Identitätsbewusstsein die Voraussetzung für ein sinnvoll steuerndes Ich ist, nicht ganz so allgemein verbreitet.
Dazu möchte ich – möglichst bald – eine Geschichte erzählen. Es ist eine Geschichte von Gedächtnisverlust, wie sie literarisch wertvoll Kathrin Schmidt in Du stirbst nicht gestaltet hat. Für meine Zwecke reicht aber eine ganz kurze Geschichte über einen Bekannten von mir.

Er kam eines Tages von einem Spaziergang nach Hause und erkannte (stressbedingt) Frau und Kinder nicht mehr. Zum Glück war sein Sohn wegen der Semesterferien zu Hause und war bereit, viel Zeit aufzuwenden. Tagelang ließ mein Bekannter sich erzählen und fragte ihn aus. Denn er wusste nicht nur nichts über seine Familie, sondern auch nichts mehr über seinen Beruf, seinen Arbeitgeber usw. .

Ohne Erinnerung an unser früheres Selbst haben wir keine Orientierung mehr im Leben, haben keine Ahnung, woran wir anknüpfen können … .

Wer bin ich? (3)

23. Februar 2010

Wer bin ich? Oder, um den objektivierenden Blick anzudeuten, besser gefragt: Wer ist ich?

Doch weil uns das zu befremdend vorkommt, vorläufig distanzierter gefragt: Wer ist Ich?

Doch wohl jemand, der zwischen sich und der Umwelt zu unterscheiden weiß, wer ein Bewusstsein von sich selbst hat.

Das Neugeborene kann das noch nicht. Erst wenn erfahren wird, dass die Umwelt sich durch das Handeln verändert und dass man einen eigenen Willen hat, wird Selbstbewusstsein möglich.

Philosophisch Denkende unterscheiden sich von anderen Ichs dadurch, dass sie ihr Welterleben nicht selbstverständlich nehmen, sondern es durchschauen wollen. Sie machen sich – unabhängig von anderen – ihr eigenes Weltbild. Philosophen kann man sie nennen, wenn sie dabei einen hohen Grad an Unabhängigkeit und Stimmigkeit erreichen.

Der Abstand zur Weltsicht anderer Ichs ist groß. Der Philosoph hat sein Weltbild nicht selbstverständlich. Er hat es sich erarbeitet. Aber er nimmt es nicht spielerisch. Er wählt nicht einfach mal dies Weltbild, mal jenes. Das ist die Sache von Dichtern. Schiller hat sich vom übermäßigen Druck der Kantschen Philosophie befreit mit dem Satz „Der Mensch ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ und hat in den „Göttern Griechenlands“ ausgemalt, wie schön und lebensvoll die Welt noch war, als sie noch von diesen Göttern regiert wurden und als die Menschen sie noch verehrten. Doch im selben Gedicht spricht er auch aus, dass diese Götter „Wesen aus dem Fabelland“, also erfunden, waren.

Max Frisch lässt seinen Erzähler in „Mein Name sei Gantenbein“ ganz viele Ichs erfinden und spielt durch, wie diese sein/ihr Leben erleben würden.

Hier legt sich nahe, den Titel „Wer bin ich und wenn ja, wie viele? “ anzuführen. Es ist aber nicht, wie der Titel vermuten ließe, ein psychologisches Buch, sondern ein Buch, das sehr locker in philosophische Fragen einführt, freilich nicht immer ganz exakt.

Schiller hat in seinem „Jüngling zu Sais“ vor der Erkenntnis der Wahrheit gewarnt. („Weh dem, der zu der Wahrheit kommt durch Schuld. Sie wird ihm nimmermehr erfreulich sein.“) Philosophen aber versuchten durchaus so viel von der Wahrheit zu erkennen, wie ihnen möglich war. Erst  im 20. Jahrhundert breitete sich die Vorstellung aus, dass Erkenntnis nicht wirklich möglich sei. (vgl. Hans Vaihinger, Konstruktivismus, Paul Feyerabends „Anything goes.“)

Das psychologische Konzept der Entstehung des Ichs lohnt einen eigenen ausführlicheren Blick. – Vielleicht ergibt sich dafür demnächst eine Gelegenheit.

Jugend und Musik

8. Juni 2008

Ich freue mich auf die Blumen rot“ (Konradin zugeschrieben, von Ernst-Lothar von Knorr)

„Das ist Lützows wilde, verwegene Jagd“ (Theodor Körner, Freiheitskriege 1813)

Ob wir rote, gelbe Kragen …“ Bürgerlied im Vormärz 1845

„Und wer die blaue Blume finden will, der muss ein Wandervogel sein“ (Von dem Wandervogel Hjalmar Kutzleb)

Wann wir schreiten Seit an Seit“ (Hermann Claudius 1916)

Ja die Fahne ist mehr als der Tod“ (Hitlerjugend)

We shall overcome“ (Protestlied 1946)

„Du laß dich nicht verhärten“ (Wolf Biermann)

Come as you are“ (Nirvana)

Immer steckt für Jugendliche so viel mehr in dem Musikerlebnis, als die Worte aussagen.

„Die Fahne führt uns in die Ewigkeit“. Es ist sonst auf anderes als das Wort Fahne bezogen; aber dies Gefühl vereinigt die Berserker zur Wikingerzeit, die deutschen Freiwilligen in der ersten Flandernschlacht 1914, die Kamikaze-Flieger des Zweiten Weltkriegs und die islamischen Selbstmordattentäter von heute. (Von den entscheidenden Unterschieden nicht zu reden.) Und es ist nur ein Gran Todessehnsucht. Es ist vor allem ein über den unvollständigen, unvollendeten Zustand Hinauskommenwollen. Schwermütig verzweifelte Hoffnung, die auch in „dass ich an Jahren bin ein Kind“ anklingt. Konradin ist mit 16 Jahren hingerichtet worden, durchaus nicht todessüchtig. Aber er hat seinen Sinn in der Geschichte gefunden.

Ausgesprochen wird das alles schon falsch. Aber das Gefühl vermittelt einen Sinn weit über Verstand und Vernunft hinaus. Und der Ausdruck tiefster Gefühle ist musikalischen Wunderkindern schon in einem Alter möglich, wo sie menschlichem Ermessen nach das seelische Erleben, das diesen Gefühlen zugrunde liegt, noch gar nicht haben können. Nach Oliver Sacks neustem Werk über Musik spricht das dafür, dass es eine vor seelischem Erleben beherrschte Musiksprache geben muss. (bei Nietzsche das Dionysische)

Man könnte jetzt über Marschmusik und darüber reflektieren, dass die Popmusik sich in so viele Gefühls-Szenen geteilt hat, dass eine gruppenübergreifende Jugendmusikkultur kaum noch zu fassen scheint (und darüber, dass es früher zwar anders, aber vielleicht nicht wesentlich anders war).